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Strategie mit Magie

„Das Damengambit“ von Netflix löst einen weltweiten Boom für Schach aus

Münster

Die Netflix-Serie „Das Damengambit“ hat einen Schach-Boom ausgelöst. Weltweit sind seit Monaten Bretter und Spielfiguren Mangelware. Mittendrin dabei sind Silvia und Christoph Kamp mit ihrem Schach­unternehmen.

Doerthe Rayen

ist für Silvia und Christoph Kamp Beruf und Passion. Dass das Damengambit eine klassische Schacheröffnung ist, wissen die beiden Foto: Gunnar A. Pier

Vor zwei Tagen sind Bretter angekommen. „Endlich wieder“, frohlockt Christoph Kamp an diesem Morgen. Die ­Erleichterung ist dem Schachexperten anzumerken. Denn: Es handelt sich um die erste Lieferung in diesem Jahr, die das Schachunternehmen Niggemann überhaupt erreicht hat. Wochenlang hatten die Inhaber, Silvia und Christoph Kamp, mit ihren Mitarbeitern freie Sicht. 100 Regalmeter waren quasi leergefegt. Keine edlen Bretter aus Barcelona, weder Figurensätze aus Indien noch aus China, keine Schachkassetten, geschweige denn Literatur für Anfänger. Alles ausverkauft – selbst bei den Herstellern. Nur wegen Beth Harmon.

Die Netflix-Serie „Das Damengambit“ hat voll eingeschlagen. Weltweit ist das Streaming-Publikum fasziniert von der fiktiven Geschichte des amerikanischen Waisen­mädchens Elizabeth. Das Wunderkind fängt als Neun­jährige mit dem Schachspielen an. Der Hausmeister des Kinderheims bringt es dem Mädchen bei und spürt sofort ihr besonderes Talent für das Spiel. Jahr für Jahr wird Beth stärker und setzt die Männer schließlich reihenweise schachmatt. Von Kentucky aus geht es für die junge Miss Harmon über Las Vegas und Paris schließlich bis Moskau, wo sie zum dritten Mal in ihrer Karriere auf den sowje­tischen Großmeister Borgov trifft. Endspiel in Zeiten des Kalten Krieges. Amerika trifft auf die UdSSR – wie zu Zeiten eines Bobby Fischer und Boris Spasski.

Marktführer für Schachbedarf

„Hätte ich das doch nur geahnt“, schmunzelt Christoph Kamp mitten in seinem Verkaufsraum im Gewerbegebiet von Amelsbüren, einem Stadtteil Münsters. Dann hätte der Mann vorgesorgt. Aber dass ein Schachfilm einen solchen Hype auslösen könnte, dass bei ihm die Telefone nicht mehr stillstehen und Bretter Mangelware sind? Damit hat Christoph Kamp nicht im Traum gerechnet. Eigentlich, so bedauert er, habe Schach ein Image, das eher Nerds denn Hollywood anspreche.

Die Streaming-Mini-Serie hat das Spiel gedreht. Der Brettklassiker ist jetzt hip. Google-Suchen rund um Schach sorgen seit Wochen für Rekord-Klicks. Und die Romanvorlage zu „Das Damengambit“ von Walter Tevis ist 37 Jahre nach ihrem Erscheinen wieder auf der Bestseller-Liste der New York Times gelandet.

Die Nachfrage nach dem königlichen Spiel, so bilanziert Kamp, habe sich von Oktober bis Dezember bei ihm im Vergleich zum Vorjahr verzehnfacht. Und das in Zeiten von Corona, wo jeglicher Vereinssport und Turniere ausfallen.

Der Hype ums Kombinieren geht auch jetzt weiter. Beth sei Dank. Vor allem Neukundinnen habe das Geschäft gefunden. „Neun von zehn Kontakten sind normalerweise Männer“, erklärt Christoph Kamp. Schach sei ein Männersport. Der deutsche Schachbund zählt in 2400 Vereinen 92.000 Mitglieder: 84.000 Männer und 8000 Frauen.

Frauen vs. Männer

Judit Polgár 2003 bei einem Turnier. Foto: IMAGO/Alfred Harder

Schach wird von Männern dominiert.  Die Weltrangliste führt aktuell der Norweger Magnus Carlsen an. Viele bezeichnen ihn als besten Spieler aller Zeiten. Bei den Frauen ist die Chinesin Hou Yifan derzeit stärkste Schachspielerin. Sie steht auf Platz 1 der Frauen-Weltrangliste und auf Platz 85 im Gesamtranking. Die Ungarin Judit Polgár mischte als Einzige die Männer-Szene auf. Sie eroberte sich Anfang der 1990er Jahre einen Platz in der Top 10 der Welt. Sie nahm so gut wie nie an Frauen-Wettkämpfen teil. 2014 hat sich die Schachspielerin aus dem Spitzensport verabschiedet. Deutschlands beste Schachspielerin heißt Elisabeth Pähtz. Die Großmeisterin der Frauen wurde 2018 Europa-meisterin im Schnellschach und ist die einzige Frau unter den Top 100 in Deutschland.

Von der Serie wussten die Kamps, lange bevor die sieben Teile bei Netflix erschienen. Schach Niggemann ist in Europa Marktführer für Schachbedarf. Geboten wird ein Vollsortiment – für den Turnierspieler wie für Schulklassen. Deshalb hat das Filmteam bei den Kamps angeklopft, als es um die Ausstattung der Schach-Requisiten ging. Der Film wurde teils in Kanada, überwiegend aber in und um Berlin gedreht. Die Requisiten sollten im Vintage-Look der 1960er Jahre sein. Geordert wurden Bretter. Schachsätze. Antiquarische Bücher. Plus 50 Schachuhren. Mechanisch waren sie, wie damals üblich. „Die Uhren aus dem Film könnte ich zuhauf verkaufen“, sagt Christoph Kamp. Aber: „Alle weg.“ Nicht nur bei ihm im Geschäft, sondern weltweit war der Run auf die Garde Classic, ein Modell aus der früheren DDR-Schmiede Ruhla, riesig. Das Großformat mit Holzgehäuse ist wahrlich repräsentativ und spricht vermutlich deshalb selbst Deko-Queens an.

Spiel-Stopp wegen Corona

Mit 14 Jahren hat Christoph Kamp das Schachspielen von einem Nachbarn gelernt. Ein Spiel, das eigentlich mehr Sport und Strategie ist, wie er findet. „Es ist kein Glück, ob du gewinnst oder verlierst“, erklärt der Geschäftsmann. Man gewinne, weil man es besser gemacht habe als der Gegner. Dabei lernt man niemals aus. „Die Auseinandersetzungmit dem Gegner reizt mich dabei“, findet der Münsteraner. Gegnerin im Spiel kann für ihn auch mal Ehefrau Silvia sein. Sie hat mit zwölf Jahren in Gescher beim SK 81 angefangen – und ist dem Verein bis heute treu. Ihren Mann hat sie über das Schach kennengelernt – als das Unternehmen Niggemann noch in Heiden saß und von den früheren Besitzern geführt wurde.

Legenden des Spiels

Garri Kasparow ging als jüngster Schachmeister in die Geschichte ein. 1985 besiegte der Russe in einem packenden Finale Landsmann Anatoli Karpow. Der war 1975 kampflos Weltmeister geworden, weil der Amerikaner Bobby Fischer seinen Titel nicht verteidigen wollte. Die Duelle zwischen Karpow und Kasparow veränderten die Schachwelt nachhaltig. Kasparow überzeugte mit  einer besonderen Angriffslust. Er spielte innovativ, risikofreudig und sprunghaft. Diese Eigenschaften brachten ihm den Beinamen „Muhammad Ali des Schachs“ ein. Dass die Schachszenen in „Damengambit“ authentisch sind, liegt auch an Kasparow. Er war Berater der Netflix-Serie.

Silvia Kamp gefällt das Netflix-Märchen sehr, vor allem die Besetzung der Beth mit Anya Taylor-Joy hält sie für extrem gelungen. Und die Schachpartien im Film? Kaum Patzer. Die Eröffnungen, die Züge, die Verteidigungen, die Stellungen – sie machen taktisch und strategisch Sinn für Insider. Tatsächlich hat Garri Kasparow neben Schach­lehrer Bruce Pandolfini Regisseur Scott Frank beraten. Die Körpersprache der Spieler, ihre Blicke, natürlich auch die Partien wirken deshalb so authentisch. Sogar Händedouble hat es gegeben. Wenn Beth Harmon Blitzschach spielt, führt nicht nur Anya Taylor-Joy die Figuren. „Das hat eine deutsche Nationalspielerin für sie übernommen“, weiß Silvia Kamp. Das erkennt die Expertin am korrekten Zugreifen und Absetzen der Figuren. Das geht der Großmeisterin Filiz Osmanodja aus Dresden nämlich schneller von der Hand als der Schauspielerin.

Christoph Kamp findet es schade, dass die Schachwelt, vor allem die Vereine in Deutschland, derzeit kaum von dem ma­gischen Boom profitieren. Es herrscht Spiel-Stopp wegen Corona. Alles verlagert sich auf die Online-Welt. Dort kommentiert auch Weltmeister Magnus Carlsen die finale Film-Partie von Beth und Borgov. Wie die ausgeht?

Es wird Zeit für eine Hängepartie . . .

Rekorde und Preise: Absolut keine Hängepartie

Beth Harmon, gespielt von Anya Taylor-Joy, dominiert die Serie und die Schachpartien. Foto: Charlie Gray/Netflix

Weißer Damenbauer auf d-4. Schwarzer Damenbauer auf d-5. Weißer Bauer von c-2 auf c-4. Jetzt könnte der schwarze Bauer den weißen Bauern, der bisher die Dame gedeckt hat, schlagen. Muss er aber nicht.

Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass neben Inzidenz, R-Wert und Schnelltest der Begriff „Damengambit“ Einzug in unseren Wortschatz hält? Die häufig gespielte Schach­eröffnung ist der Titel einer siebenteiligen Netflix-Serie, die seit der Erstveröffentlichung im Oktober 2020 sämt­liche Rekorde gebrochen hat. Innerhalb eines Monats wurden die sieben Folgen, die allesamt nach Schachbegriffen wie „Doppelbauer“ oder „Hängepartie“ betitelt sind, von 62 Millionen Abonnenten gesehen – ein Rekord. Die Serie landet in 63 Ländern auf Platz 1 der Netflix-Charts.

Quadrate aller Art

Die Assoziationen sind einfach: Weiße und schwarze Quadrate im Wechsel angeordnet ergeben ein Schachspiel. Ist es da genial zu nennen, dass es Picasso 1911 geschafft hat, in seinem Bild „Der Schach“ ohne ein einziges dieser Quadrate auszukommen? Anders das Musical „Chess“, das 1986 Premiere feierte. Dort wimmelt es im Bühnenbild nur so von schwarz-weißen Feldern. Das berühmteste Buch zum Thema hat wohl Stefan Zweig zwischen 1938 und 1941 im Exil geschrieben. Das Schachspiel besetzt dort erst nur eine Nebenrolle, erhält aber im Verlauf der Handlung eine tiefere Bedeutung. Das Buch „Schachnovelle“ über einen Gefangenen der Gestapo ist bis heute bewährte Schullektüre. Locker und leicht nimmt es dagegen Roland Kaiser, der sich 1979 im Schlager gerne durch eine Dame „schachmatt“ setzen lässt. -me-

Doch die Geschichte vom Waisenmädchen, dessen Talent vom Hausmeister entdeckt wird und das sich in einem männerdominierten Sport durchschlägt, faszinierte nicht nur die Zuschauer, sondern auch die Kritiker. Golden Globes für die Hauptdarstellerin Anya Taylor-Joy und für die Mini-Serie generell sprechen eine ­deutliche Sprache.

Glückszahl mit drei Buchstaben

Leon Windscheid hat die Elo-Zahl Glück gebracht. Auf seinem Weg zur Million zockte der Münsteraner 2015 bei der 500 000-Euro-Frage und wurde belohnt. „Je höher die Elo-Zahl, desto besser der ...“ lautete die Frage, „Schachspieler“ die richtige Antwort. Und da Windscheid nach eigenen Angaben keine Ahnung hatte, wusste er ebenso wenig wie Günther Jauch, dass die Zahl nach dem verstorbenen US-Physiker Arpad Elo benannt ist. Dieser entwickelte in den 1960er Jahren ein System zur Bewertung der Spiel­stärke von Schachspielern, das heute auch in anderen Sportarten wie dem Frauen-Fußball angewendet wird. Großmeister haben in der Regel eine Elo-Zahl von mindestens 2500, Magnus Carlsen führt aktuell die Weltrangliste mit 2847 Punkten an. -me-

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