Geschichte in 140 Zeichen
Fünf Historiker erzählen die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs auf Twitter nach
Warendorf
Wer dem Account „@DigitalPast“ auf der Internet-Plattform Twitter folgt, begibt sich auf eine Zeitreise in die letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs.
Er irrt mit dem untergetauchten Juden Victor Klemperer durch das vom Bombenhagel zerstörte Dresden. Er ist dabei, als der Ortsgruppenleiter Friedrichs an eine Gruppe Hitlerjungen Schnaps ausschenkt und sie gemeinsam mit SS-Männern zu einer Grube schickt. Sie sollen Jüdinnen erschießen. Er erfährt, das, während die „Gustloff“ in der Ostsee versank, ein Konzert des Großen Berliner Rundfunkorchesters im Radio lief. Solist: Walter Gieseking.
Es sind Schlaglichter in den jeweils maximal 140 Zeichen, die der Kurznachrichtendienst Twitter erlaubt. Viele kleine Puzzlestücke – nicht nur tages-, sondern oft minutengenau 70 Jahre nach dem Ereignis –, die sich am Ende zu einem Gesamtbild des Kriegsendes zusammensetzen. Es ist das Projekt von fünf Historikern, unter ihnen der gebürtige Warendorfer Michael Schmalenstroer.
Unter dem Titel „Heute vor 70 Jahren” zeichnen die fünf die Endphase des Zweiten Weltkriegs nach. Die Tweets springen von der Front im Westen zu den Flüchtlingstrecks im Osten und vom Holocaust zum Bombenkrieg. Die Leser – bei Twitter „Follower“ – begleiten einzelne Menschen in einem kurzen Abschnitt ihres Lebens. Die Historiker haben über Wochen Tagebücher, Briefe und Vermächtnisse gewälzt und daraus kurze Episoden ausgewählt. „Wir haben uns auf Ego-Dokumente konzentriert. Wir wollen den Alltag der Menschen möglichst unverfälscht darstellen“, sagt Schmalenstroer. Jetzt stehen vermeintlich Banales und kleine Begebenheiten neben Großereignissen. Das ergibt ein sehr vielfältiges Gesamtbild.
Tausende Tweets haben die Historiker vorbereitet. Aus einer Datenbank heraus werden diese nun sechs Monate lang Tag für Tag auto matisiert veröffentlicht. Echtzeit-Geschichtserzählung über mehrere Monate. Der erste Tweet war die Nachricht von der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar.
Die fünf haben bereits Erfahrung mit dieser Art des Erzählens von Geschichte. Im November 2013 starteten sie ihr erstes Experiment: Sie stellten die Ereignisse rund um die Reichspogromnacht 1938 auf Twitter dar. Die Zahl ihrer Follower wuchs auf mehrere Tausend an. Für Schmalenstroer und seine Kollegen war danach klar, dass sie die Idee wieder aufgreifen würden. Geld bekommen sie dafür nicht. Sie treibt Leidenschaft für die Geschichte an. „Es ist schön zu wissen, dass inzwischen 11 000 Menschen etwas über den Nationalsozialismus lernen“, sagt Schmalenstroer.
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